Was viele Paare in meinen Sitzungen beunruhigt und innerlich bedroht, sind andere Paare. Andere Paare, bei denen scheinbar alles tutti ist. Es sind die Paare, die ihr System scheinbar am Laufen halten. Wir finden sie in Kirchen, bei Instagram, aber auch in anderen Kontexten unserer sozialen Umgebung. Ich glaube, jeder kennt sie, die Paare, die mit einem zauberhaften Lächeln auf den Lippen beteuern, dass sie wirklich nie Konflikte hätten. Ihnen würde nichts einfallen, an dem sie noch arbeiten oder wachsen könnten.
Lasst mich euch an dieser Stelle beruhigen. Hier braucht es eine Portion Entromantisierung. Diese Romantisierung von Paaren, die behaupten, dass alles tutti laufe und sie nie Konflikte hätten, kann nämlich ein Hinweis darauf sein, dass es doch nicht so rund läuft. Im Gegenteil: Es gibt Paare, die versuchen, nach außen hin zu verbergen, dass es schwierig ist. So können Paare, wenn andere zu Besuch sind, hervorragend funktionieren und sich darstellen, aber kaum sind sie allein, kracht es. Paare können in der Kirche schick angezogene Kinder haben und ihre Partnerin bzw. ihren Partner in der Predigt erwähnen und von ihr bzw. ihm schwärmen, doch zu Hause fallen dann keine wertschätzenden Worte mehr. Paare können sich vor der Kamera fröhlich inszenieren und Empathie und Zuwendung zeigen, um sich eigene Ziele damit zu erfüllen, doch zu Hause herrscht Gefühlskälte.
Was wir von außen wahrnehmen, kann also täuschen. Muss es aber natürlich nicht. Es gibt auch Paare, die in aller Aufrichtigkeit ein hohes Maß an Harmonie erleben. Ich persönlich bin allerdings lieber bei Paaren zu Besuch, die sich, auch wenn ich da bin, mal zanken oder reiben, als bei Paaren, die eine heile Welt vorspielen.
Was sich hoffentlich von selbst versteht: Auch David und ich sind als Paar trotz des kognitiven Wissens über Paarbeziehung nicht davor gefeit, knatschig zueinander zu sein, mit unseren Unterschiedlichkeiten uns auch mal verrückt zu machen und im Konfliktgespräch in die eine oder andere Fallgrube zu tapsen.
Im Folgenden habe ich euch sechs Punkte einer "Nach-außen-scheint-alles-tutti-Übersicht“ zusammengestellt und erkläre, welche Ursachen sich dahinter verbergen könnten. Sie soll euch entlasten, denn, wie gesagt: Bei den wenigsten Paaren ist wirklich immer alles bestens.
1) Glaubenssätze: Diese können uns etwas darüber verraten, was ein Paar über Konflikte denkt und welche Haltung es dazu hat. Glaubenssätze können uns unter Umständen verraten, dass das Paar noch keine Konfliktkultur etabliert und das Gebiet der Konfliktklärung noch nicht weiter bereist hat. Ein Glaubenssatz, der sich oft unter Christinnen und Christen findet, ist das romantisierte Narrativ einer konfliktfreien Ehe. Immer wieder erlebe ich Paare, die Angst haben, sich durch Konfikte zu "versündigen“. Der Druck etwas augenscheinlich Falsches zu tun, ist zu hoch. Ein Konflikt darf dann auf keinen Fall vor anderen stattfinden oder banale Alltagsreiberein werden mit falscher Frömmigkeit im Gewand der Heiligkeit ummantelt.
Wenn Paare dann plötzlich in ihren Partnerschaften vor Konflikten stehen, fehlen ihnen Handlungsalternativen, Tools und die Kompetenz, ihre Wünsche zu formulieren. Das romantisierte Narrativ, in dem sie jahrelang gelebt, sich hineinfantasiert haben, droht nun zu platzen. Da, wo die zarten Grautöne fehlen, da, wo nicht der ganze Mensch wahrgenommen wird, da, wo alle eine von außen geprägte Meinung haben und Unterschiede keinen Raum einnehmen dürfen, verpassen manche Kirchen, Menschen konfliktfähig für ihr Miteinander zu machen.
Paare dürfen diesen Glaubenssatz der heiligen Ehe, die keine Verletzungen kennt, über Bord werfen und sich stattdessen verwundbar machen und Mut fassen, sich einander zu zeigen. Gar nicht so einfach, denn etlichen Paaren in Kirchen bleibt nichts anderes übrig, weil sie durch Konflikte in ihrer Ehe Positionen, Mitarbeitsbereiche und Teilhabe riskieren. Doch echte Ehevorbilder sind unperfekt. Sie sind nahbar. Sie machen Fehler und stehen dazu.
2) Unter den Teppich kehren: Aus Angst, das Konstrukt der gemeinsamen Verbindung durch ein Störsignal zu bedrohen, kehren Paare ihre Themen unter den Teppich. Das Problem dabei ist, dass das kleine feine Häufchen immer größer wird und bald zu einer echten Stolpergefahr werden könnte.
3) Bequemlichkeit: Es kann sein, dass Paare zu bequem dafür sind, miteinander zu verhandeln und ins Gespräch zu kommen. Um einen Konflikt zu lösen oder einen Bereich anzusprechen, der Unzufriedenheit auslöst, bedarf es emotionales Engagement. Ein Paar muss bereit sein, dieses Engagement zu zeigen.
4) Wenig Wachstum: Ein kurzer Blick in die Fachliteratur und schnell wird deutlich, dass Konflikte Saatböden für Wachstum sind und für die Entwicklungsaufgaben als Paar bedeutsam sein können. Konflikte sind ein "folgerichtiger Ablauf“. Krisen und Konflikte miteinander durchzustehen kann Paare stärken, sie resilient, also widerstandsfähiger machen und ihnen zeigen, dass sie auch Stürme überwinden können. Paare, die gemeinsam auf Konflikte blicken, lernen sich dabei gegenseitig intensiv kennen und wachsen gemeinsam. Wenn Paaren diese gemeinsame Kompetenz fehlt, verpassen sie die Chance, als Paar weiter zu reifen und als eigenverantwortliche Personen zu wachsen.
5) Hilflosigkeit: Es gibt Paare, die haben von Anfang an nicht gelernt, miteinander Konflikte zu lösen. Vielleicht gab es einen Part, der anfangs bereit war, Konfliktgespräche zu führen. Doch wenn der andere Part nicht bereit ist, sich verletzlich zu machen und sich zu öffnen, wird es für das Gegenüber über kurz oder lang fast unmöglich, in die Tiefe zu gehen. In solchen Beziehungen scheint vielleicht alles tutti, aber in Wirklichkeit machen die jeweiligen Beteiligten viel mit sich allein aus und fühlen sich hilflos.
6) Unterdrückte Bedürfnisse: Viele Paare halten ihre unversorgten Bedürfnisse zurück und haben sich in einer Beziehungsdynamik zurechtgeschaukelt, die im Grunde schräg ist. Sie haben keine gesunde Balance zwischen Selbstständigkeit und Abhängigkeit. Auch gibt es Paare, die in völliger Symbiose miteinander verschmelzen. Solche Paare führen einen Lebensstil, der im Übermaß alles miteinander teilt und erlebt. Es gibt aber auch Paare, bei denen die Überschneidungen fehlen und die nebeneinanderherleben. In anderen Partnerschaften wiederum investiert eine Seite viel und wird zum Helferling und die andere Person zum Pflegling. Nach außen wirkt es, als ob es keine Konflikte gibt, aber die Konstellation kann zu ungesunden Verstrickungen führen, in denen das Geben einseitig bleibt. Bei anderen Paaren wiederum lässt sich ein Ungleichgewicht im Selbstwertgefühl feststellen, die sogenannte Gleichwertigkeitsbalance. Hier lernt ein Part, sich den Wünschen und Vorstellungen der anderen Seite ständig anzupassen, damit Konflikte nicht aufflammen, und verliert dabei Stück für Stück immer mehr die eigene Individualität. Solche Paare durchlaufen das Programm dieser Muster immer wieder, merken es aber nicht. Über kurz oder lang stellt sich eine Unzufriedenheit ein.
WER IST IRA?
Ira Schneider arbeitet in einer psychologischen Beratungsinstitution für Paare, Familien und Einzelpersonen. Freiberuflich ist sie als Paartherapeutin, Autorin und freie Redakteurin tätig.
Dieser Text ist ein Auszug aus ihrem Paar- Ratgeber "Jeden Tag ein neues Ja".
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